Die Problematik der Bildungspolitik und die Frage der Bildungsfreiheit und Bildungsverantwortung
Kommentar von Josef Gundacker
Laut Bericht des Europäischen Rates (Rechtsakt: Bildung) über die konkreten künftigen Ziele der allgemeinen und beruflichen Bildung heißt es: „Besonderes Augenmerk muss dem Erwerb der Grundfertigkeiten gelten, die ständig zu aktualisieren sind, um sie an die Entwicklungen der Wissensgesellschaft anzupassen.
Darüber hinaus ist eine Verstärkung der Lese-, Schreib- und Rechenfertigkeit sicherzustellen, insbesondere in Zusammenhang mit den Informations- und Kommunikationstechnologien“.
Rechtsakt: Bildung: [5680/01 EDU 18]
Die Diskussion über Bildung beschränkt sich also rein auf die qualitativ bestmögliche Wissensvermittlung in Zusammenhang mit den Informations- und Kommunikationstechnologien. Wird eine Veränderung der Unterrichtsmethoden und der Strukturen des Bildungssystems den Bildungsstandard der Jugend heben? Selbst wenn die Lehrer sich mehr Mühe geben, effizienter zu unterrichten und bessere Methoden anwenden – manche Psychologen meinen, wir bräuchten „spaßigere“ Modelle, wird uns dies weiterbringen? Könnte es sein, dass mehr Effizienz und bessere Lehrmethoden gar nicht die Antwort sind? Diese Frage drängt sich Bildungsexperten auf.
Bessere Methoden sind nur soziales „Aspirin“. Es gab nie zuvor mehr Bücher und Wissen über Bildung und Erziehung, mehr Psychologen und Experten. Trotzdem gestaltet sich Bildung und Erziehung schwieriger denn je und die psychologischen Probleme unserer Kinder nehmen zu.
Bildungsexperten und Pädagogen sind vielfach in der Vorstellung gefangen, Schulen und Universitäten seien die Besitzer des Wissens, das es zu vermitteln gilt. Wie wenig davon allerdings bei den Schülern ankommt, ist enttäuschend. Die neueste PISA Studie hat gezeigt, dass 20% der einheimischen Jugendlichen mit 16 Jahren nicht ausreichend sinnzusammenhängend lesen können.
Nur wenige unserer „Experten“ beschäftigen die Grundprinzipien des Lebens, die Dynamik der Liebe und somit die Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Daniel Goleman, Autor des Buches „Emotionale Intelligenz“ schreibt: „Erzieher, die schon lange beunruhigt sind über die nachlassenden Leistungen in Rechnen und Lesen, erkennen jetzt ein anderes und noch alarmierenderes Defizit – emotionale Unbildung“. Es wird dringend ein Unterricht gebraucht, in dem die Kinder lernen, mit Emotionen umzugehen, Meinungsverschiedenheiten friedlich zu regeln und miteinander auszukommen, also zu kommunizieren und wahre freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen.
In anderen Worten, ein kompletter Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik muss stattfinden. Vom Schwerpunkt der Wissensvermittlung und Fachausbildung hin zu einer gesamtpersönlichen Bildung. Die Bildungsreform benötigt ein ganzheitliches Bildungskonzept, sowohl inhaltlich als auch strukturell.
Wachstum und Entwicklung eines Kindes sind ein natürlicher Prozess und folgen bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Diese Tatsache oder dieses Prinzip akzeptieren wir für die physische Entwicklung eines Kindes. Weniger üblich und schwieriger ist es, diese Prinzipien des Wachstums auch auf emotionalem Gebiet, bei zwischenmenschlichen Beziehungen oder sogar in Hinblick auf den persönlichen Charakter zu verstehen.
Für die gesamte Erziehungswissenschaft gilt es, drei Grundpfeiler und Prinzipien zu berücksichtigen:
1. Gesetz des Gebens und Nehmens
Wenn die Bindung und Beziehung stimmt, folgt die Bildung automatisch. Es gibt ein natürliches Grundbedürfnis des Menschen, sich zu bilden. Wenn die Bindung, die Basis stimmt, wird jeder Mensch sich freiwillig und gerne bilden. Sehr viele Menschen kämpfen gegen die Folgen entfremdender und aufgezwungener Bildung. Die Beziehung ist, wie Gordon Neufeld sehr klar vermittelt, für die Bildung und Erziehung eines Kindes das wichtigste, nicht sein Verhalten oder Erfolg. Es geht also um die Qualität der Eltern- Kind Beziehung und der Lehrer-Schüler Beziehung.
Familie ist die erste Schule des emotionalen Lernens. Vertrauen, emotionale Sicherheit und Stabilität erfährt ein Kind in der Beziehung zu seinen Eltern. Wenn Eltern es verabsäumen, ihrem Kind emotionale Stabilität und Liebe zu geben, wirkt sich dies auf das gesamte Leben des Kindes aus. Anders ausgedrückt, „wo die Liebe fehlt, wächst die Wut“. Das heißt, die Kompetenzen für die Bildung und Erziehung müssen auf die Familie ausgedehnt werden. Der gegenteilige Trend ist aber vorherrschend, indem man die Ansicht vertritt, man müsse die Kindererziehungam besten auslagern und externen „Pädagogen“ überlassen. So könnten die Eltern am besten unterstützt und entlastet werden. Welch absurde Idee! Wie sollen Eltern ihre Erziehungsverantwortung erfüllen, wenn man sie dieser entledigt?
Kindergarten und Schule sind als sprichwörtliche Keimzelle der Gesellschaft die Erweiterung der Familie. Das bedeutet, der Förderung der Eltern-Kind Beziehung sowie der Lehrer –Schüler Beziehung muss mehr Augenmerk geschenkt werden.
2. Die Gesetze des Wachstums und des Wandels
Persönliches Wachstum und Bildung findet immer in Beziehungen statt. Für Kinder ist es deshalb nicht ausschlaggebend, was ihre Bezugspersonen, Eltern, Lehrer und Erzieher sagen, sondern was sie für das Kind sind.
In unserem Zeitalter wurde die individuelle Leistung zum obersten Prinzip und Wissen zur Ware. Wer gebildet ist, genießt soziale Anerkennung. Als Resultat wurde eine positive mentale Einstellung zum Haupttrend, um Erfolg zu haben. Dafür wurden Sozialtechniken angeboten. Diese Techniken für soziale Beziehungen fanden ihren Ausdruck in Leitsätzen wie: „Mit einem Lächeln gewinnst du mehr Freunde, als mit einem langen Gesicht“. Andere Leitsätze waren deutlich manipulativ. Menschen wurden ermutigt, Interesse und Zuneigung zu Anderen mit bestimmten Techniken zu erringen. Da charakterliche Eigenschaften wie Integrität, Treue, Mut, Fleiß, etc. nicht messbar sind, werden diese meist nur beiläufig erwähnt.
Bildungsmethoden, welche vorwiegend auf besseres Management und Effektivität ausgerichtet sind, ignorieren wichtige Aspekte menschlichen Wachstums. Sie haben zwar eine enorme Anziehungskraft, da sie Lebensqualität und Selbstverwirklichung versprechen, den natürlichen Prozess von Arbeit und Wachstum jedoch umgehen. Wo entwickelt ein Mensch seine Persönlichkeit und seinen Charakter? Am besten in der Familie, weil hier die persönliche Beziehung zum DU im Mittelpunkt steht. Nicht die Leistung eines Kindes zählt für die Eltern, sondern das Kind an sich.
Die Familie als erste Schule des Lebens und der Liebe bereitet auf das Leben und Lernen in der öffentlichen Schule vor. Wenn die Familien es nicht mehr schaffen, den Kindern ein solides Fundament für das Leben mitzugeben, wird das Problem in die Schule ausgelagert und von den Lehrern Lösungen erwartet.
Viele Lehrer befinden sich heute in einem Rollenkonflikt zwischen Autoritätsperson und Kumpel ihren Schülern gegenüber. Letztlich gelingt die Beziehung, wenn der Lehrer eine Haltung und ein Herz von Eltern entwickelt. Um erfolgreiche Beziehungen zum Partner, zu Kindern, Freunden und Kollegen zu unterhalten, gilt es generell, zunächst zuhören zu lernen. Dies erfordert emotionale Stärke und ein ehrliches Interesse am Nächsten.
Der Staat sollte daher ein vitales Interesse daran zeigen, nicht nur die Kompetenzen der Lehrer, sondern auch die emotionalen und sozialen Kompetenzen der Eltern zu stärken.
3. Prinzip der Verantwortung
Was istdie menschliche Verantwortung? Viktor Frankl sieht im Leben drei zentrale Werte: die Erfahrung, oder das, was uns geschieht, den kreativen Wert, oder was wir selber gestalten und verwirklichen und den Wert der Einstellung, oder unserer Reaktion auf die Umgebung und Umwelt.
Unser Verhalten, unsere Gewohnheiten entspringen unserem Selbstbewusstsein und Menschenbild. Reaktive Menschen befreien sich von Verantwortung, indem sie ihr Verhalten rechtfertigen: „So bin ich einfach!“, oder: „Mein Großvater war auch schon so stur!“, „Meine Orientierung ist genetisch bedingt!“, „Die Umstände oder andere Menschen zwingen mich zu tun, was ich tue!“ „Ich werde bestimmt!“, „Ich bin nicht verantwortlich!“. Die Menschen werden darin bestätigt, sie seien fremdbestimmt und produzieren Beweise, die diese Vorstellung unterstützen. Sie fühlen sich immer mehr als Opfer, ohne Kontrolle über ihr Leben.Sie suchen die Schuld beim Anderen, den Umständen oder den Sternen.
Junge Menschen brauchen verantwortliches Handeln, in ihrer Beziehungzum Nächsten und zur Umwelt. Bildung ist kein Selbstzweck. Warum haben die Schüler sehr oft kein Motiv und Interesse an Bildung? Sie sehen keinen Sinn darin. Die zentrale Botschaft in der Erziehung und Bildung muss daher lauten: Ohne Freiheit keine Verantwortung und ohne Verantwortung keine Freiheit.
Brauchen wir eine universitäre Lehrerausbildung?
Noch ein paar Gedanken zurLehrerausbildung: In Österreich wird über eine universitäre Ausbildung auch für Grundschullehrer diskutiert. Die Frage ist nur, werden dadurch die Schüler aufmerksamer zuhören können?
Brauchen Lehrer ein besseres Kommunikationstraining, eine Ausbildung in positiven Denken und Einflussstrategien? Diese Techniken können natürlich hilfreich sein, aber sind sie wirklich dafür geeignet, den gewünschten Erfolg herbeizuführen? Werden die Schüler dann aufmerksamer zuhören? Sozialtechniken können grundsätzliche Störungen im Charakter der Führungspersönlichkeiten nicht aufwiegen. Lebensstil und Lebenseinstellung sind nicht „Privatsache“, sondern wirken sich merklich in der Arbeit mit Menschen aus.
Es gibt in unseren Schulen viele Lehrer, die sich aufrichtig und mit ihrer ganzen Persönlichkeit investieren. Diese werden erfahrungsgemäß von den Schülern auch respektiert. Für zu viele Lehrer ist aber der Unterricht ein Akt der Selbstverwirklichung. Sie diskutieren gerne über ihr „Wissen“, können dieses aber unzureichend in konkreten Situationen umsetzen. Die emotionale Kluft und der Frust in der Lehrer-Schüler Beziehung bleibt somit bestehen.
Wenn es einem Lehrer an tiefer Integrität und grundlegender Charakterstärke mangelt, werden die Herausforderungen des schulischen Alltags die wahren Motive an die Oberfläche holen. Das beste Wissen wird dann nicht helfen, wenn die Schüler dem Lehrer keine Aufmerksamkeit schenken.
Ein östliches Sprichwort besagt: „Der Lehrer erscheint, wenn der Schüler bereit ist.“ Wenn Lehrer und Schüler aufeinander abgestimmt sind wie Sender und Empfänger, also wenn die Beziehung stimmt, werden Wissensvermittlung und Bildung ihre Früchte tragen.
Somit sind wir wieder bei der Charakterbildung und Erziehung zur Verantwortung angelangt, sowohl für Schüler als Vorbereitung auf das zukünftige Berufs- und Familienleben als auch für Lehrer, um erfolgreicher unterrichten zu können.