Über Sex zu sprechen ist heute kein Problem mehr. Über die unzähligen sexuellen Neigungen, Nuancen und Fantasien zu reden ist sogar modern. Aber, so schreibt der bekannte Wiener Psychiater und Psychotherapeut, Raphael M. Bonelli; „über eigene Fehler zu sprechen – das geht gar nicht. Nichts ist so intim wie die eigene Schuld. Die Abwehraggression bei dem Thema ist deutlich spürbar, bei denen jeweils „Unschuld“ auf Beschuldigung prallt. Die peinlichen Verrenkungen, um offensichtliche Fehler zu verleugnen, sind bemerkenswert. Wir verdrängen unsere Schuld, weil sie letztlich Schmerz bedeutet und wir Angst vor Schmerz haben. Viele Menschen tun sich heute schwer, die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen, und haben sich ein entlastendes Erklärungsmuster von Fremdbeschuldigung und Selbstmittleid zurechtgelegt. Fast jeder sieht sich als Opfer“[1].
Die Standards zur Sexualaufklärung wollen eine „ganzheitliche, positive“ Sexualaufklärung, um damit die „sexuelle Gesundheit“ der Menschen zu unterstützen und zu fördern. Doch was verstehen WHO Experten unter sexueller Gesundheit?
Die Definition der WHO für sexuelle Gesundheit lautet: „Sexuelle Gesundheit ist der Zustand körperlichen, emotionalen, geistigen und sozialen Wohlbefindens bezogen auf die Sexualität und bedeutet nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, Funktionsstörungen oder Schwäche“.
Im Buch „Liebe und Sexualität als soziale Konstruktion“ werden Sexualforscher noch deutlicher. Dort liest man über die Soziologie der Sexualität: „Die wissenschaftliche Macht der Sexologen beruht darauf, dass sie sich auf eine relative präzise Definition von „sexueller Gesundheit“ haben einigen können. Als sexuell „gesund“ gilt demnach, wer fähig ist, nach Belieben […] jenen Höhepunkt sexuellen Genusses zu erreichen, den man heute allgemein als „Orgasmus“ bezeichnet. Genauer: Die sexuelle Gesundheit eines Menschen bemisst sich daran, wie nahe er in seiner sexuellen Befriedigung dem „idealen Orgasmus“ kommt, d.h. dem normativen Modell des Höhepunktes sexuellen Genusses, die jeweils als die „kompetentesten“ gelten“. Für Sexualforscher wird die sexuelle Gesundheit am Befriedigungserlebnis und der Intensität des sexuellen Genusses gemessen. Dies hat nichts mit der geistig-seelischen Gesundheit eines Menschen zu tun.
Sexuelle Gesundheit, aus Sicht der WHO-Experten, erfordert sowohl eine „positive, respektvolle Herangehensweise an Sexualität und sexuelle Beziehungen als auch die Möglichkeit für lustvolle und sichere sexuelle Erfahrungen, frei von Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt. Wenn sexuelle Gesundheit erreicht und bewahrt werden soll, müssen die sexuellen Rechte aller Menschen anerkannt, geschützt und eingehalten werden.“ WHO (2006), S.10. Die Sexuellen Rechte sind unter anderem das Recht auf sexuelle Gesundheit, sexuelle Selbstbestimmung und Sexuelle Freiheit, sowie einen Schutz vor Diskriminierung, sexueller Gewalt.
Sexuelle Gesundheit wird immer mit dem Recht auf Selbstbestimmung verbunden! Jeder Mensch, vom Baby bis zur betagten Seniorin soll also sein Geschlecht, seine sexuelle Neigung und Präferenz und seine sexuellen Fantasien, ohne Einschränkungen ausleben können. Das bedeutet auch, dass beispielsweise eine Frau, die selbstbestimmt sich der Prostitution hingibt, nicht kritisiert werden darf, denn das wäre bereits eine Diskriminierung. Tatsache ist aber, dass eine Prostituierte die zu sexuellen Handlungen mit ihrem Freier einwilligt, dies aber nie freiwillig tut. Ihr Gewissen, sofern es nicht völlig abgestumpft ist, sagt ihr nämlich es nicht zu tun. Tut sie es trotzdem unterminiert sie ihre eigene Gewissensfreiheit.
Denkt man die Definition der WHO konsequent zu Ende, so bedeutet das, dass für die sexuelle Gesundheit des Einzelnen die Gesellschaft verantwortlich ist. Der einzelne Mensch ist also vom Verhalten seiner Mitmenschen und seines sozialen Umfeldes abhängig. Um es mit dem Philosophen Rousseau zu sagen: „Der Mensch ist von Natur aus gut, die Gesellschaft ist die Wurzel des „Bösen“ im Menschen“.
Das Individuum und sein Standpunkt wurden zum „Heiligtum“ erklärt, frei nach dem Ausspruch von Johann Nestroy: „Der Mensch is‘ gut, aber die Leut‘ san a G’sindel!“ In der Abhandlung Jean-Jacques Rousseaus über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, glaubt er „nachgewiesen“ zu haben, dass die Gesellschaft dafür Sorge, dass sich der Mensch von seiner Natur entfremde.
Für seine sexuelle Neigung und Triebe ist der einzelne Mensch also nicht verantwortlich. Was aber, wenn ich als Mensch meine sexuelle Gesundheit, aus seiner freien Entscheidung heraus, aufs Spiel setze? Schränke ich damit meine Freiheit und mein Recht auf Selbstbestimmung nicht selbst ein? Welches verantwortungslose Leben der einzelne Mensch auch leben mag, er steht immer unter dem Schutz des Gesetzes. Mehr noch, der Einzelne rechtfertigt seinen Lebensstil mit durch das Gesetz.
Wie verhält sich diese Dynamik im realen Leben? Der junge Mann, bzw. die junge Frau, konnte trotz Warnung seines Gewissens, der Versuchung eines sexuellen Abenteuers nicht widerstehen! Am Ende der Affäre folgt die Enttäuschung und der Sturz in ein emotionales Loch. Erst sündigte man, jetzt ist man das Opfer des eigenen Fehltritts. Da die Folgen nicht mehr wiedergutzumachen sind und der eigene Stolz eine Entschuldigung nicht zulässt, braucht es eine rationale Begründung. – „Man hätte es damals zwar besser wissen sollen, aber jetzt ist es zu spät“, „andere Menschen sind doch auch gelegentlich untreu!“, „außerdem hat uns niemand gesehen“, „die Umstände haben uns dazu veranlasst“- Kein Zweifel, dann sind wir reine Opfer, und soll nur jemand versuchen, an unserem Opferstatus zu rütteln, oder gar zu erwarten, dass wir unseren Lebensstil verändern.
Ein HIV-positiver beispielsweise, hat durch seinen verantwortungslosen Lebensstil seine Freiheit massiv eingeschränkt. Er wird Zeit seines Lebens von Medikamenten abhängig sein, die er nicht selbst bestimmen kann. Sein Lebensstil hat ihn zu einem Gefangenen seiner eigenen Neigung gemacht.
Sex und Liebe sind zu einem Konsumgut geworden. Entspricht der Sexualpartner nicht mehr den Ansprüchen, wird es ausgetauscht und upgedatet. Frauen und Männer sind auf dem Partnermarkt leicht zu haben. Sie müssen sich nur richtig vermarkten, um die Nachfrage zu steigern und als begehrtes Objekt zu gelten.
„Fear of a better option“ – die Angst, sich zu binden, weil man die nächstbessere Option verpassen könnte, ist weit verbreitet.
Die Sexualpädagogen und Psychologen des „Österreichischen Instituts für Sexualpädagogik“ (kurz ISP), der „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Deutschland“ (BZgA) und der „WHO“ beanspruchen für sich das alleinige Definitionsrecht für Sexualaufklärung, um der angeblichen Vielfalt der sexualpädagogischen Ansätze in Europa Rechnung zu tragen.
Wenn Sexualpädagogik es aber vermeidet, zwischen einer selbstlosen, gegenseitig bereichernden und einer selbst-süchtigen Lebensweise, die nur die momentane Lust betont, zu unterscheiden, wie kann sie dann über sexuelle Gesundheit reden? Eine solche Sexualpädagogik verfehlt ihren Informationsauftrag und ihren Zweck, wenn sie es verabsäumt, die Kinder und Jugendlichen nicht auf die Konsequenzen eines verantwortungslosen Sexualverhaltens hinzuweisen. Sexuelle Gesundheit, welche die Gesundheit von Körper, Geist und Seele zu erhalten beabsichtigt, muss auch das menschliche Verhalten, bzw. Fehlverhalten berücksichtigen. Es kann daher nicht wertfrei sein, sonst ist es wertlos! Wer den jungen Menschen keine klaren Informationen mit auf den Weg gibt, was im Bereich der Sexualität gesund oder ungesund ist, und sie stattdessen an ihr Selbstbestimmungsrecht verweist, macht sich indirekt mitschuldig an den weit verbreiteten sexuellen Übergriffen unter Minderjährigen, die auch oft auf subtile Weise stattfinden.
Die Sexualpädagogik der Vielfalt ignoriert den Reifungsprozess des Individuums und die Beziehungsfähigkeit, als Voraussetzung für reife Beziehungen und fördert das frühzeitige „Erkunden“ und „Experimentieren“. Diese unreife, pseudo-entwickelte Sexualität führt dazu, dass Jugendliche ihre Intimität ausleben, ohne die innere psychische Reife zu haben, um mit den Folgen zurecht zu kommen.
Die „Standards für die Sexualaufklärung in Europa“ müssen auf die zugrunde liegende Definition von Sexualität, „sexuelle Gesundheit“ und „sexuelle Rechte“ geprüft werden. Sind die Informationen zu den vielen Aspekten der Sexualität für Kinder und Jugendlichen auch jene, die sie brauchen, um ihr Leben zu meistern? Was verstehen Sexualpädagogen unter „sexueller Bildung“? Ist das „Recht auf sexuelle Selbstbestimmung“ ein Freibrief für Promiskuität? Die WHO Standards für die Sexualaufklärung in Europa werfen viele kritische Frage auf!
Josef Gundacker
[1] Raphael M. Bonelli, Selber Schuld! – Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen ©2016 Droemer Verlag