In den WHO Standards für die Sexualaufklärung in Europa ist unter Exkurs: „Initmate Citizenship“ zu lesen: „In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, den Begriff der „Intimate Citizenship“ einzuführen, der sich auf sexuelle Rechte aus einem sozialwissenschaftlichen Blickwinkel bezieht. Sozial- und Sexualwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler plädieren derzeit für die Etablierung einer Verhandlungsmoral als gültige Sexualmoral der Gegenwart. Der Kern dieser Moral besteht darin, dass die Inhalte in gegenseitigem Einverständnis von mündigen, gleichwertigen, gleichberechtigten und gleich starken Beteiligten ausgehandelt werden. Eine wichtige Voraussetzung ist, dass die Beteiligten ein gemeinsames Verständnis des Begriffs „Einvernehmlichkeit“ entwickeln und sich die Konsequenzen ihres Handelns – gerade auch in ihrem partnerschaftlichen und sexuellen Verhalten – bewusst machen“[1].
„Intimate Citizenship“ meint, dass die Art und Weise wie sexuelle Beziehungen gestaltet werden, einvernehmlich zwischen den Partnern ausgehandelt (ebd., 2004, Seiten 9–19), auch unter jugendlichen Partnern. Junge Frauen und Männer begegnen sich auf „Augenhöhe“ und beanspruchen die gleichen Rechte, auch wenn dies in der Realität nicht immer gleich gut gelingt (Matthiesen et. al., 2009, Seiten 312–313)[2]
Es geht bei „Intimate Citizenship“ also nie um das „DU“, um ein Geben und Beschenken des Partners, sondern immer um das „ICH“, um das Ego, um meine Bedürfnisse. Und Egoismus bringt die Liebe um. Wer nur noch sich selber sieht und die Bedürfnisse des Partners nicht mehr wahrnimmt, baut im Grunde genommen gar keine Beziehung auf. Unverbindliche Beziehungen sind daher vom Wesen her instabil und unsicher. Oft ist den Partnern ihr egoistisches Handeln überhaupt nicht bewusst. Sie haben meist nicht gelernt, nicht nur Rücksicht zu nehmen, sondern sind auch unfähig hinzuhören und dem anderen seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Ehe zerbricht dann bereits, ehe sie begonnen hat!
Der von der WHO geprägte Begriff „Initimate Citizenship“ hat weder etwas mit Intimität noch mit Vertrauen oder Glaubwürdigkeit zu tun. Das erklärte Ziel ist die Etablierung einer Verhandlungsmoral als gültige Sexualmoral. Dies bedeutet, dass jede Sexualpraktik erlaubt und in Ordnung ist, sofern sie einvernehmlich von statten geht. Es spielt keine Rolle mehr, ob Sex innerhalb oder außerhalb der Ehe, mit zwei oder mehreren Menschen stattfindet, sondern wie er zustande kommt. Die einzige Frage lautet: sind alle Beteiligten einverstanden mit dem was getan wird. Wenn zwei oder eine ganze Gruppe von Menschen, „Dirty Talk“ praktizieren, einen Porno schauen oder eine Sex Party veranstalten, dürfen sie daran nicht gehindert werden, sofern alle Beteiligten einverstanden sind. Sie haben ja ihre Wünsche und Bedürfnisse verbal oder non-verbal artikuliert und ausverhandelt. Die einzige Ausnahme bildet Sexualität mit Kindern. Durch die Etablierung einer Verhandlungsmoral werden jene Menschen gefördert, die klüger, schlauer und trickreicher sind und welche es besser verstehen den Mitmenschen zu überreden und zu manipulieren! Damit wurden Pornographie und jede Art von sexueller Perversion gesellschaftsfähig gemacht.
Verhandlungsmoral bedeutet, dass die Bedingungen von gemeinsamen sexuellen Handlungen von „gleichberechtigten“ Akteuren gemeinsam ausgehandelt werden. Zum Beispiel, wenn einer von ihnen Pornos schauen will und der/die andere es nicht gut findet, es aber toleriert, dann ist es OK, denn beide haben darüber gesprochen. Wenn zwei Teenager einen One-Night-Stand wollen, dann ist es OK.
Der Kern dieser Verhandlungsmoral und damit auch deren Ambivalenz besteht in der Annahme, dass die Beteiligten mündig sind und auf gleicher Augenhöhe verhandeln. Was aber heißt „mündig“ und was ist, wenn einer oder beide unmündig sind, Charaktermängel aufweisen und sich den Konsens erschleichen oder erkaufen? Auch Gauner und Verführer haben die Verhandlungsmoral als Grundlage und streben Einvernehmlichkeit an, um ihre Ziele zu erreichen. Und ein Freier, jemand, der um ein Mädchen freit; ein Kunde einer Prostituierten, verhandelt auch auf Augenhöhe, um mit ihr einvernehmlichen Sex zu haben. Nur die moralische Augenhöhe ist dann entsprechend niedrig, denn beide haben sich auf die Ebene eines Triebwesens erniedrigt und ihre Menschenwürde weggeworfen.
Es ist ein reines Wunschdenken von den neo-liberalen Sexualpädagogen, dass durch Verhandeln auf „Augenhöhe“ ein Mensch befähigt wird, eigen- und partnerverantwortlich zu handeln. Die gendersensible Pädagogik wurde hingegen zum Opium der Jugend, welches die Sexualisierung vorantreibt.
Laut Wörterbuch bedeutet „mün·dig“: 1. alt genug für bestimmte rechtliche Handlungen zu sein. 2. als erwachsener Mensch zu eigenem Urteil, selbstständiger Entscheidung befähigt. Diese Definition von Mündigkeit trifft keine Aussage über den Reifegrad eines Menschen und nimmt an, dass der Mensch die Verantwortung für sein Handeln übernimmt. Viele Erwachsene sind zwar gesetzlich zur Vornahme von Rechtshandlungen berechtigt und zu einem eigenen Urteil und selbstständiger Entscheidung befähigt, sie sind aber oft nicht reif und nicht fähig, richtige von falschen, guten von bösen Handlungen zu unterscheiden. Anders ausgedrückt, viele Menschen sind zu selbständigen Entscheidungen befähigt und zu Rechtshandlungen berechtigt, ihre Entscheidungen sind oft aber nicht rechtens.
In einem Aufsatz zum Thema „Emotionale Gewalt und frühe Sexualisierung“ schreibt die Dipl.-Psychologin und Psychotherapeutin Tabea Freitag: „Das Prinzip der „Selbstbestimmung“ und „Verhandlungsmoral“ kann Kinder und Jugendliche nicht schützen. Sie muss ins Leere gehen, denn sie unterstellt eine bereits vorhandene Mündigkeit und Persönlichkeitsreife, eine Kenntnis der tiefen Zusammenhänge von Sexualität, Intimität und Partnerschaft“.
[1] (Quelle: Standards für die Sexualaufklärung in Europa Seite 21)
[2] Menschenrechtsbasierte Sexualpädagogik mit Jugendlichen, Seite 5, Herausgeber: pro familia, Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V. Bundesverband 2012