FILMKRITIK von Josef Gundacker
Gemeinschaftseigentum, freie Sexualität, Auflösung der Kleinfamilie – das waren die Grundprinzipien des Friedrichshofs, der größten Kommune in Europa, die vom Wiener Aktionisten Otto Mühl Anfang der 70er Jahre gegründet wurde. Der Regisseur Paul-Julien Robert, der in diese Kommune hineingeboren wurde, begibt sich in „MEINE KEINE FAMILIE“ auf eine persönliche Reise in die eigene Vergangenheit.
Ausgehend von Archivmaterial, das im Film erstmalig öffentlich gezeigt wird, konfrontiert der Regisseur sich selbst und seine Mutter mit der Frage: Was ist Familie? Er zeigt auf, dass die Idee der freien Liebe Menschen in ein Desaster stürzt. Seine Mutter kam von der Schweiz in die Kommune am Friedrichshof, angezogen von der Idee einer freien Gemeinschaft, von freier Liebe und Sexualität. Jeder ist frei, seine Gefühle und Sexualität auszudrücken. Jeder teilt mit jedem alles und ist bereit, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Was könnte attraktiver sein – keine Verantwortung, keine Sorgen und jede Menge Spaß!
Diese vermeintliche Freiheit hatte für die Beteiligten und vor allem für die Kinder einen hohen Preis. Der Preis war der Verlust ihrer Individualität. Den Frauen, die ein Kind gebaren, war es verboten, Mutter zu sein. Die Kinder wurden der Mutterliebe beraubt, und wer der Vater war, wusste bzw. interessierte sowieso niemanden.
Mit vier Jahren verlässt ihn seine Mutter um in der Schweiz Geld für die Kommune zu verdienen. Das Kind bleibt einsam zurück inmitten der großen Gemeinschaft von Kindern und Erwachsenen. Kein Erwachsener bemerkt seine Einsamkeit, denn es hat nicht einsam zu sein. Es gibt doch regelmäßig kreative, künstlerische Abende für Kinder und Erwachsene, wo jedes Kind seine Talente entwickeln, seine Gefühle ausdrücken kann und wo es jede Menge Spaß gibt. Wenn sich ein Kind weigert zu singen, wird es von Otto Mühl bloßgestellt und dazu gezwungen.
Aus den freien Liebesbeziehungen wird ein rigides System von Macht und Kontrolle, das jede seelische Regung von Anfang an unterbindet. Paul-Julien Robert befragt seine Mutter, selbst Opfer der freien Liebe, die sich mit erstaunlicher Offenheit darauf einlässt, aber mitunter den Scheuklappenblick nicht ablegt. Der Traum der freien Liebe ist zerplatzt und die zerstörte Kindheit irreversibel. Die wichtigste aller menschlichen Beziehungen, die Beziehung zwischen Vater/Mutter und Kind aber kann erneuert werden. Dazu bedarf es viel Mut und der Kraft der Vergebung.
Das Verhältnis von Mutter und Sohn bleibt ambivalent, dennoch werden Worte der Anklage oder Bitterkeit gänzlich ausgespart. Das verleiht dem Film das wertvolle Potential zur konstruktiven Aufarbeitung einer dunklen Geschichte.
Fazit: Freie Liebe und das Auflösen aller Bindungen sowie moralischer Normen und Standards bereiten den Nährboden für Missbrauch der Liebe und Sexualität. Die Suche und die Sehnsucht nach seiner Mutter und seinem Vater beantwortet auch die Frage nach der Familie. Familie ist die Bindung und Beziehung zwischen Mutter, Vater und Kind.
Prädikat: Sehenswert